Eigenen Coaching-Erfahrungen zeigen, dass wir Menschen uns selbst, andere Menschen und die Welt anders zu sehen beginnen, wenn wir die Weite und die Tiefe unserer inneren Welt kennenlernen (Selbstreflexion). Wir sind (zu) sehr daran gewöhnt, nach Außen zu schauen, auf die Dinge, die uns umgeben, wie z.B. was wir besitzen (Haben) und was wir arbeiten (Tun).
"Wer nach außen schaut, träumt; wer nach innen schaut, erwacht.“ Carl Gustav Jung
Ungewohnt ist (häufig) der Blick in unsere eigene Innenwelt, in das eigene „So-Sein“. Mit dem „Sein“ haben sich schon die Menschen in der Antike beschäftigt. Die bekannte Tempel-Inschrift am Apollotempel von Delphi „Gnothi seauton“, ist ein klares Bekenntnis zur Selbstreflexion. Die Inschrift bedeutet übersetzt „Erkenne dich selbst/ Erkenne, was Du bist“. Jedes Individuum hat nach der Meinung des Orakels die Verantwortung für seine eigenen Grundhaltungen und damit für sein Denken und Handeln. Ziel ist es, dass eigene Denken zu „durch“schauen und darüber hinaus zu gehen. Dann erkennen wir, wer wir hinter unseren vergänglichen Gefühlen und Gedanken sind.
„Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und vollständig zu denken.“ Heraklit
Wir halten fest, dass die Selbstreflexion uns von der äußeren Ebene des Habens und des Tuns, zu der inneren Ebene dessen, was uns als Menschen ausmacht, unser Sein, führt. Selbstreflexion ist eine notwendige Voraussetzung, um emotional intelligent zu handeln.
Es scheint so, dass wir Menschen mehr Kenntnisse von elektronischen Geräten, Autos oder Marken-Textilien haben, als von unserer eigenen inneren Welt. Manchmal brauchen wir Menschen erst einen Auslöser, der uns von der Außenwelt in unsere Innenwelt katapultiert. Der Autor Robert Betz beschreibt, dass wir häufig erst über die 3 K’s zur Selbstreflexion kommen. Die 3 K’s sind: Krise, Krankheit und Konflikte.
Ein Film (nach einer wahren Begebenheit), der 2008 in insg. 4 Kategorien für einen Oscars nominiert war, „Schmetterling und Taucherglocke“, zeigt ein solches 3-K-Schicksalsdrama und die anschließende Selbstreflexion auf: der französische Chefredakteur des Magazins „Elle“, Jean-Dominique Bauby, erleidet 1995, im Alter von 43 Jahren, einen massiven Schlaganfall. Er erleidet das sog. „Locked-In-Syndrom“: er ist stumm, ganzheitlich gelähmt und kann nur noch mit seinem linken Augenlid blinzeln. Trotz seiner unvorstellbaren Einschränkungen, begreift Bauby immer mehr, dass er (obwohl er sich wie in einer Taucherglocke gefangen fühlt) geistig aktiv und frei, wie ein Schmetterling ist. Bauby diktiert seine Selbstreflektion, seine Wünsche und Träume über Monate hinweg allein mit dem Blinzeln seines linken Auges. So entstehen Baubys Memoiren "Schmetterling und Taucherglocke". Sein Buch ist voller Lebensfreude, Poesie und philosophischer Einsichten. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung seines Buches, verstirbt Bauby 1997.
Trailer zu dem Film "Schmetterling und Taucherglocke"
Wir Menschen sind in Bezug auf unsere Selbstreflexion frei wie ein Schmetterling und dennoch sind wir häufig in unserer eigenen, selbstgeschaffenen „Taucherglocke“ „gefangen“. Die Folge davon ist, dass wir uns nicht selbst reflektieren. Schauen wir uns im weiteren Verlauf an, was Selbstreflexion genau bedeutet.
Selbstreflexion setzt sich aus den Begriffen „Selbst“ und „Reflexion“ („zurückstrahlen“ oder „nachdenken“) zusammen und bedeutet einen bewussten Blick auf das eigene Handeln, Denken und Fühlen – unser Inneres - zu werfen. Wir „arbeiten“ an und mit uns selbst, wenn wir uns selbst reflektieren. Indem wir fragen „Wer sind wir?“, wollen wir mehr über uns selbst erfahren, Gewohnheiten, Verhaltens- und Glaubensmuster werden freigelegt. Wir lernen uns über die Selbstreflexion selbst (besser) kennen. Selbstreflexion ist vergleichbar mit einem Date mit jemanden, den wir gerade erst kennenlernen und über den wir mehr erfahren möchten. Nur das wir selbst derjenige sind, den wir kennenlernen wollen.
„Aber Selbsterforschung ist meist schon der erste Schritt zur Wandlung, und ich erfuhr, dass niemand ganz der bleibt, der er war, indem er sich erkennt." Thomas Mann
Die Psychologin Stefanie Stahl sieht einen engen Zusammenhang zwischen Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Sie beschreibt in dem Kapitel „Ein Plädoyer für die Selbsterkenntnis“: „..das Selbsterkenntnis nicht nur der Königsweg ist, um sich aus seinen persönlichen Problemen zu befreien, sondern auch der Königsweg, um ein besserer Mensch zu werden.“ (S. 30) Das Ergebnis der Selbstreflexion ist häufig ein besserer Zugang zu den eigenen Motiven, Gefühlen und Gedanken, die einen enormen Einfluss auf unser Verhalten habe.
Viele Menschen haben Angst vor einer ehrlichen Selbstreflexion. Sie drücken sich vor der Betrachtung Ihrer Schwächen, Ängste und Ihrer Schattenseite. Die Selbstreflexion (selbst wenn sie schmerzhaft sein sollte) ist alternativlos. Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen, die keine bewusste Selbstreflexion vornehmen, gerne Ihre unliebsamen Gefühle auf Andere projizieren (s. Stefanie Stahl). Die beliebteste Strategie, um sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen ist die Ablenkung im Außen z.B. Smartphone; Netflix, etc..
Eigene Grafik "Wie wir Menschen funktionieren"
Das Ergebnis einer Selbstreflexion ist immer auch ein Stück eine Persönlichkeits-entwicklung – wir wachsen mit der Bewusstheit von uns Selbst. Je besser wir uns selbst (er)kennen, desto schwächer ist unsere Verzerrung der Wahrnehmung der äußeren Welt (s. eigene Grafik "Filter") und desto besser ist unser Selbstkontakt. Je besser unser Selbstkontakt ist, desto besser sind wir in der Lage andere Menschen zu sehen (Empathie). Gerade im Kontakt mit anderen Menschen/ Situationen können wir Selbstreflexion sehr gut üben: Was ist mein Anteil an der Situation? Was habe ich damit zu tun? Was macht das gerade mit mir?
In der Selbstreflexion nehmen wir eine „Meta-Ebene“ ein. Wir schauen aus einer gewissen Distanz auf uns (s. Dis-Identifikation in der Psychosynthese). Wir werden uns unseres Selbst bewusst. Diese Fähigkeit unterscheidet uns von den Tieren und bietet uns die Möglichkeit, jederzeit der Mensch zu werden, der wir sein wollen. Durch Selbstreflexion können wir Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten.
3 Fähigkeiten helfen bei der Selbstreflexion:
Das Interesse für uns selbst ebnet den Weg für die Reflexion des eigenen Selbst. Über die Achtsamkeit und damit die Bewusstheit für das eigene Denken und Fühlen findet dann das Beobachten (die Selbstwahrnehmung) statt. Nur wenn wir das, was wir in uns selbst beobachten, nicht be- und verurteilen, können wir verschiedene Perspektiven einnehmen. Diese beurteilungslose Selbstwahrnehmung bildet die Basis für unsere Selbst-Akzeptanz und damit für die spätere Selbst-Entwicklung. Dieser ganze Prozess wird als Selbstreflexion bezeichnet.
Mit Menschen, die sich einer Selbstreflexion gezielt verschließen, ist es häufig schwierig ein konstruktives, reifes Problemgespräch zu führen. Ungerechtes Handeln und Schuldzuweisungen entstehen oft durch eine verzerrte Wahrnehmung bei diesen Menschen.
Wie wird die Selbstreflexion im beruflichen Kontext bewertet? Das Harvard Business Magazin (9/2022) berichtet in seiner aktuellen Ausgabe von Forschungen, die zeigen, „dass regelmäßige Reflexion der Schlüssel zu einer erfolgreichen Karriere ist. … Wir würden sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass Selbstreflexion nicht nur der Schlüssel zur Karriere ist, sondern auch die Türen zu allen anderen Soft Skills öffnet und somit eine Grundlage für sie bildet.“
Eine Befragung des Harvard Business Magazin zeigt, dass es 3 emotionale Auslöser für Selbstreflexion und die spätere enorme Entwicklung von Managern und Führungskräfte gibt:
Immer dann, wenn Dinge nicht so laufen wie wir uns das wünschen, wenn wir keine Kontrolle haben, bietet die Selbstreflexion ein großes Potenzial zur Selbst-Entwicklung.
Das Handelsblatt hat die Ergebnisse einer Befragung zum „Wunsch-Chef“ von Mitarbeitern veröffentlicht: die Fähigkeit, die eine gute Führungskraft am meisten kennzeichnet, ist die Fähigkeit zur „Selbstreflexion“.
Selbstreflexions-Fragen im beruflichen Kontext sehen wie folgt aus: Was hat heute funktioniert/ was ist gut gelaufen und was nicht? Was ist für mich erreichbar und was nicht? Was kann ich aus den Dingen, die nicht gut gelaufen sind, lernen? Was ist mein Anteil an den Dingen, die nicht funktioniert haben?
1. Selbstreflexion findet in der Ruhe und Stille statt. Nur wenn wir nicht durch äußere Reize abgelenkt werden, sind wir in der Lage uns selbst wahrzunehmen. Schaffe Dir tägliche Zeitfenster für Deine Selbstreflexion.
„Du kommst nur zu Dir, wenn Du still wirst. Die vielen Einflüsse von außen machen Dich krank. Du brauchst die Stille, um ganz Du selbst zu werden.“ Anselm Grün
Der Dalai Lama empfiehlt: "Verbringe jeden Tag einige Zeit mit dir selbst."
2. Selbstmitgefühl zeigen.
Wenn wir unsere (ständigen) inneren Dialogen durch die Selbstreflexion bewusst machen (Selbstwahrnehmung und Meta-Ebene), werden wir merken, wie hart und unfreundlich wir häufig mit uns selbst umgehen. Wir nehmen möglicherweise Minderwertigkeitsgefühle, Ängste, Einsamkeit und Selbstabwertung wahr. Nur wenn wir liebevoll und empathisch mit uns selbst umgehen, können wir innerlich wachsen.
„Mit Selbstmitgefühl schenken wir uns selbst die gleiche Güte und Fürsorge, die wir auch einem guten Freund oder einer guten Freundin schenken würden.“ Kristin Neff
3. Selbst- und Fremdwahrnehmung abgleichen. Indem wir uns Feedback zu unserer Wirkung (im Außen) von anderen Menschen einholen, können wir unser Selbstbild vervollständigen. Der sog. „blinde Fleck“ zeigt uns auf, wo wir unbewusste Persönlichkeitsmerkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen haben bzw. zeigen, die zwar von andere Menschen, aber nicht von uns selbst wahrgenommen werden können.
4. Regelmäßiges Entwicklungs-Journaling. Beim Journaling wird ein Tagebuch über die eigenen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen geführt. Beispielhafte Selbstreflexions-Anregungen sind (s. B. Migge): In Bezug auf mein Verhalten, meine Emotionen, meine Gedanken, meine Bedürfnisse, mein Körpergewahrsein, etc. … bin ich zufrieden mit … bin ich unzufrieden mit…. habe ich schon erreicht ….strebe ich an…
5. Stetiges Bewusstsein. So häufig wie möglich sollten wir jeden Tag die Meta-Ebene des Bewusstseins einnehmen und uns selbst, unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten bewusst beobachten. So trainieren wir eine Gewohnheit zur Bewusstheit und damit auch zur Selbstreflexion. Einen guten Einstieg bietet die gezielte Betrachtung von vergangenen Ereignissen mit dem Gibbs' Reflective Cycle.
Selbstreflexion ist eine zentrale Fähigkeit, um sich weiterzuentwickeln. Nur wenn wir den Weg nach Innen gehen und unser Denken, Fühlen und Handeln bewusst wahrnehmen, kennenleren und hinterfragen, können wir mehr über uns selbst erfahren und uns besser verstehen. Persönlichkeitsentwicklung startet mit der Selbstreflexion. Das Ziel ist es, zu einem immer besseren Beobachter unserer eigenen Gedanken, Gefühle und unserem Verhalten (Handeln) zu werden. Wir trainieren unsere Wahrnehmung.
Weitere Informationen und konkrete Unterstützung unter www.nicorolli.de.
Quellen:
Robert Betz bei youtube
Kristin Neff: Selbstmitgefühl, Kailash Verlag
Schmetterling und Taucherglocke: https://www.youtube.com/watch?v=sY6gwOks1Rg
Stefanie Stahl: Das Kind in Dir muss Heimat finden, Kailash Verlag
Vera Birkenbihl bei youtube
Harvard Business Manager: "Die verborgene Kraft der Selbstreflexion", Harvard Business Manager 9/2022
Björn Migge: „Handbuch Coaching und Beratung“, Belz Verlag
Nico Rolli
Bachemerstr. 233 50935 Köln